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Der Clan der starken Frauen

Die Bärin in der Erde

Eines der beliebtesten schamanischen Krafttiere kennen die wenigsten von uns aus der freien Natur. Und doch ist es "erst" rund 1000 Jahre her, da gab es schamanische Christen mitten in Europa, die sich unter den Schutz der Bärin gestellt hatten und deren Heilige im Bärenmonat Dezember um die Wintersonnenwende herum verehrt wurden. Der Kult ist erfolgreich von der Kirchengeschichte unterschlagen worden - doch die heiligen Plätze haben überdauert.
Am leichtesten fällt die Annäherung im jüngsten Bärenkultort, dem elsässischen Städtchen Andlau, das etwa 35 km südwestlich von Strassburg in der Nähe des Ottilienberges liegt. Auf Schritt und Tritt begegnen wir der heiligen Richardis, die als Kaiserin an der Seite Karl des 111. oder Dicken (881 - 887) herrschte. Einen Brunnen schmückt sie als Herrscherin und Priesterin, gekleidet in einen Umhang aus Bärenfell, zu Füssen ihre Bärin. In der Nähe ihrer Abtei gleicht sie einer Bärengöttin, die das Lebens - und Himmelsrad unter dem Bärenbauch dreht und den Lebensbaum hegt.

In der Abteikirche, wo ihre Reliquien ruhen, erzählen uns Gemälde und Glasfenster Teile der Geschichte, die Richardis als starke und konsequente Frau bis heute lebendig sein lassen. Ihr Mann, von Zeitgenossen als fett, faul und niederträchtig beschrieben, war unfähig, das Land zu regieren. Kurzerhand übernahm die hochintelligente Kaiserin die Regierung und setzte den jungen Bischof Liutgard als Ratgeber ein. Aufgebracht über so viel weibliche Grösse war nicht nur Karl der Dicke. Der ominöse "Rote Ritter", ein Schwabe, witterte eine Möglichkeit, die Franken zu schwächen. Schnell war zwar die Intrige eingefädelt, die Richardis und ihrem Berater ein Verhältnis andichtete, doch wieder fand die Kaiserin eine unkonventionelle Lösung. Sie erschien in vollem Hofornat - nicht nur, um bravourös eine Feuerprobe zu bestehen - sondern vor allem, um sich öffentlich von ihrem Gatten loszusagen, der kurz darauf von seinen eigenen Untertanen verjagt wurde. Richardis zog sich ins nahe Ottilienkloster zurück - in die alte Hochburg des Bärenkultes. Nicht lange, da begegnete sie im Wald einer Bärin, die ihr totes Kleines beweinte und auf der Erde scharrte, als wollte sie es begraben. Richardis sprach die Bärin ohne Angst an und hauchte ihrem Jungen wieder Leben ein. Dankbar blieb die Bärenfamilie bei Richardis. Die Erde, auf der die Bärin gekratzt hatte, durfte unter Richardis' Kloster nie verbaut werden und Bären wurden bis ins 18. Jhdt. in der Krypta der Kirche gehalten. Weil ein Kind angefallen worden war, verzichtete man später darauf, aber die Stadt Andlau gewährte jedem Bärenführer weiterhin freie Kost und Logis.

Ich schreite an Richardis vorbei, ihrem Ratgeber Liutgard, ihrer Familienahnin Ottilia. Ich begegne dem vierarmigen Atlas und sehe, wie die Drachenschlange Vouivre, die keltische ErdWasser–Göttin, die Muschelschalen mit dem Weihwasser in ihren Klauen hält. Inzwischen haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und bevor ich die ausgetretenen Stufen zur Bärenkrypta hinabsteige, fällt mein Blick auf eine uralte Steinplatte, deren drei magische Berggipfel mit drei Raben wie eine Wächterschwelle den Eingang hütet. Es wird noch dunkler, noch stiller. Das nördliche Mauerwerk ist von Richardis selbst gebaut, 1177 Jahre alt. Obwohl das Kreuzgewölbe nieder und wuchtig erscheint, strahlt dieser Ort eine immense, behaglich wirkende Kraft aus. Die Schritte werden nach vorne gezogen, Pfeiler für Pfeiler schreite ich weiter, tief unter die Erde. Die Krypta wird zur Grotte.
Auf der Nordseite des Altars lebten die Bären und die Ex-Votos dort künden von Heilung von Nekrosen und Hilfe in jeder Lebenslage. Ungefähr in der Mitte der Krypta wacht eine Steinbärin. Ich umrunde sie, ihr Bärinnengesicht, das in den Zenith schaut, wird menschlich, dann wieder tierisch ein Vexierbild in Stein. Davor die uralte Holzklappe, die ich behutsam öffne. Konzentrierter Waldgeruch schlägt mir entgegen mitten im Ort, tief unter dem Strassenniveau in einer Kirche! Meine Hand ertastet einen alten runden Schacht. Will ich die "materia prima" der Richardis und ihrer Bärin berühren, muss ich tief niederknien. Ich atme den feuchten Erdduft und senke meine Hand tiefer. In der Schwärze der Erde spüre ich sanft gerundete Felsen, Erde, ja sogar Pflanzen! Die Berührung lässt eine Kraft in meinen Arm hochfahren, als hätte ich in eine Steckdose gegriffen. Ich wirble in einen Brunnenschacht, in dem es keine Zeit mehr gibt, in dem die Jahrhunderte vorbeifliegen und doch jede Zeit mit jeder verbunden ist...

Die Schamanin im Kloster

Angefangen hatte alles, als die irischen Mönche aufs Festland kamen, um ihre ersten Klöster in Frankreich zu gründen. Die Franken waren mit germanischen Ursprüngen nach Gallien gewandert, hatten aber schnell ihre Religion mit keltischem Wissen verknüpft. Ihre geheimnisvolle Adelselite, die Merowinger, pflegte eine sehr viel ältere Tradition, die bis ins europäische Neolithikum zurückreicht. Ihre Könige und Königinnen waren noch echte Schamanen, ihr Königsamt von dem des Priesterdaseins nicht zu trennen. Die Schamanlnnen der Merowinger traten meist als Paar auf, doch waren die Frauen oft die Leiterinnen und Lehrerinnen. Viele Barden und Druiden hatten sich als irische Mönche getarnt, um der Verfolgung zu entgehen. Sie, die in Gruppen zu dreizehn einreisten und mit Vorliebe ihre Einsiedeleien in Bärengrotten, nebst einer heiligen Quelle und einem Weltenbaum gründeten, fanden in den Merowingern aufmerksame Zuhörer. Denn das heilige Schutztier der Merowinger war die Bärin.
Eines der berühmtesten Klöster, von dem dieser christlich-schamanische Bärenkult nach ganz Europa getragen wurde, gründete die heilige Ottilia (660 – 720) auf dem heute nach ihr benannten, dreigipfligen Mont Ste. Odile bei Strassburg. Hier finden aufmerksame Beobachterlnnen noch heute alle Hinweise, die auf anderen heiligen Plätzen längst verwischt sind. Ottilia versammelte Männer und Frauen aus Irland und Schottland um sich, erst dreizehn, schliesslich 130. Sie besass ein magisches Bärenfell und anscheinend all ihre Nonnen und Mönche. Auch der Ort verwundert nicht: innerhalb der sogenannten Heidenmauer, dem grössten megalithischen Bauwerk Europas, gab es einst ein Druidenheiligtum. Und die Abris der Steinzeitjäger, die die Bärin auf dem Nordgipfel des Dreierberges verehrten, sind heute noch intakt. Wir wissen von den neuesten Ausgrabungen, dass die merowingischen Schamanenpriesterinnen mit einer Bergkristallkugel, einer Spindel, einem Kelch und manchmal einem Bronzekesselchen, oftmals sogar mit Augenperlen der Wassergöttin bestattet wurden. Waren sie königlicher Herkunft, schmückten sie sich mit Bienenfibeln, aus denen sich die französische Lilie entwickelte. Eine grosse Rolle spielte ein Bernsteinamulett alls dem heiligen Harz der Bären. Ein bisher ungedeuteter Eisenstab, der wie bei einem Mörser neben dem glockenförmigen Kelch gefunden wurde, erinnert an das heilige Rührgefäss der Schamaninnen der Turkvölker, das die Mitte des Himmels verkörperte und mit dem die Priesterin den Kontakt zur Sternengöttin aufnahm.
Tatsächlich kannten auch die Irenmissionare und die Merowinger solch eine Kommunikationsstelle. Es war die "Mühle der neun weissen Hirschkühe", die "Feenmuhle" oder das "Butterfass der Himmelsmilch", die in jedem Kloster den heiligen Mittelpunkt bildeten. Dort als Nabel der Erde entsprachen sie dem Nabel des Himmels, dem Punkt, um den sich die Sterne scheinbar drehten - dem Punkt, den die Sternbilder der grossen und kleinen Bärin hüteten. Die Schamanen der Merowinger Wussten sicher noch, wie sie an diesem Punkt die Heilige Hochzeit zwischen kosmischen und irdischen Kräften erleben konnten. Rituale mit Blitzsteinen und wassergefüllten Bechersteinen spielten dabei eine Rolle. Die Priesterin wurde zur Stellvertreterin der Sternengöttin, die sich als Erd–Wassergöttin spiegelte und rnit dem Licht-Sonnen-Geliebten verband.

Die Drachin im Himmel

Als sich der römische Papst gegen die irisch-fränkische Kirche durchsetzte, wurde das schamanische Wissen verteufelt. Die Vouivre, die keltische Erd–Wassergöttin in Gestalt einer geflügelten Schlange, wurde zum bösen Drachen. Ihre Sonnengeliebten, mit denen sie den heiligen, kreativen Ritus vollzog, endeten als blutrünstige Ritter Ceorg und Michael. Die Orte jener Heiligen Hochzeit konnten aber nie restlos zerstört werden. Radiästhesisten bezeichnen sie heute als "kosmo-tellurischen Kanal". Es gibt ihn noch im Ottilienkloster, wo einst neun weissgekleidete Frauen bei Vollmond um die "Engelskapelle" tanzten, um den Heros der Göttin und Schamanenpriesterin zu erwählen. Das Michaelsmosaik im Innern ist voller Hinweise auf die alte Göttin. Gleich nebenan, in der "Tränenkapelle", befindet sich der heilige Stein der Vouivre, der lange Zeit noch von den Nonnen mit dem magischen Wasser der Ottilienquelle gefüllt wurde, bis ein Gitter dem "heidnischen" Treiben den Garaus machte.
Im frühen Mittelalter gab es eine Menge schamanischer Klöster und Heiligtümer. Verschiedene Kriterien lassen sie uns heute noch aufspüren. Es sind gewiss alle Gründllngen des Iren Columban, sehr oft andere irisch-merowingische Klöster. Einer der berühmtesten Bärenmönche war der Ire Callus (St. Gallen). Bern geht auf die Sternen-Bären-Göttin Artio, die "Mutter der Tiere" zurück und in Köln wurde vor der heiligen Ursula die alte Göttin Ursel (Horsel/Ercel) verehrt. Weitere alte Bärenheiligtümer waren Brescia in Italien, St. Ursanne im Jura, in Frankreich Ourscamp bei Noyon, Blangy in der Diözese Arras, Luxueil und Autun in der Franche–Comte, vor allem aber das alte Baume-les-Dames bei Besancon, in dem Ottilia bei den Priesterinnen des alten Heiligtums der Mond-Bären-Göttin initiiert wurde. Fündig werden wir vor allem in Frankreich und im Schweizer Raum, in Deutschland im Kölner Raum und in Bayern. Ottilienheiligtümer gibt es auch bei Freiburg und München.

So können wir weitere Plätze suchen:

  • Die Gründerlnnen trugen meist Bärennamen mit den Silben "ber/bri", "ars/art", "urs" oder wurden nach ihrem Vorbild Ottilia benannt mit den Silben "od/ad/aud". In merowingischen Zeiten bildeten sie einen Clan der Bärinnen.
  • Es gibt Sagen von Drachentötern und heiligem Wasser oder von Licht/Blitz und Wasser. Auch Ortsnamen können auf diesen Sagenkreis weisen.
  • Es gibt oft "Schalensteine" oder "Bechersteine" in der Region
    Die Uranlage hatte immer einen heiligen Baum (oder drei), eine heilige Quelle und eine Grotte oder besondere Krypta. Meist steht sie auf Berggipfeln oder künstlichen Hügeln und sehr oft gibt es eine schwarze Madonna.
  • GründerInnen waren Iren oder Schotten auf dem Festland oder die fränkischen Merowinger. Sehr oft ist von Eremiten die Recle, die mit Bären leben oder deren Höhle beziehen, oder von Eremiten, die mit Tieren reden.

Petra van Cronenburg

Aus der KREISZEIT Nr. 15, 1998

Bär