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Badik

Badik treibt im Wasser. Zwanzig Meter vom Ufer entfernt schaut er sich um: das Ufer mit seinem Kiesstrand, hinten die Büsche und der Wald; dann empor zum blauen Himmel und auf die fernen, klaren Berge. Die Welt, wie Badik sie kennt und liebt.
Dann taucht er einige Zentimeter unter die glitzernden Wellen und findet sich in einer völlig anderen Welt. Durch grün-blaue Räume gleiten schattenhaft Fische und unten lockt das dunkelblaue Unbekannte. Dies ist eine Welt, die ihn neugierig macht, eine Welt voller Geheimnisse und verborgener Schätze. Sie gehört zur Welt über den Wellen und doch ist Badik hier ein Fremder, muss sich erst an die neuen Gesetzmässigkeiten gewöhnen. "Sagenhaft, dieser Vergleich," denkt er, "wie die alltägliche und die nichtalltägliche Wirklichkeit im Schamanismus!"
Vor einiger Zeit hat Badik's Leben eine Wende erfahren. Fasziniert von allerlei Bücher über Schamanismus hat er endlich die Realität der schamanischen Welten persönlich erfahren und nichts ist mehr, wie es vorher war. Zu Beginn assoziierte er den Begriff Schamanismus mit Fellen, Federn, Trommeln und in archaischen Kulten ums Feuer tanzenden Menschen. Doch nun weiss er, dass Schamanismus nicht unbedingt an bestimmte äussere Requisiten und Handlungen gebunden ist.

"Hey, kommst du endlich?!" ruft Meg vom Ufer herüber. Er schwimmt langsam zu ihr. Meg ist eine gute Freundin Badik's und interessiert sich für seine schamanischen Tätigkeiten. Deshalb hat er sie eingeladen, ihn heute abend zu einer schamanischen Sitzung zu begleiten. "Du hast gesagt, wir müssten hier um halb sechs los und nun ist es bald zwanzig vor!" zetert Meg. "Ja-ja, wir haben Zeit genug" meint Badik als er sich anzieht.
Im Auto fragt Meg: "Also, wo gehen wir denn nun hin?" "Ein Bekannter hat mich wegen einer Grippe, welche nicht ausheilen wollte, um Hilfe gebeten. Ich habe ihm dann sein Krafttier geholt, worauf es ihm besser ging. Doch mit dem linken Knie hat er immer noch Probleme. Sein Arzt sagt, das Knie wäre in Ordnung und nun hat er mich nochmals um eine Behandlung gebeten". "Scheint mir komisch, dass ein völlig imaginärer Akt, wie das Holen eines Krafttieres, sich wirklich auf körperliche Beschwerden auswirken kann" meint Meg. Badik entgegnet: "Ich habs dir doch erklärt. Es handelt sich nicht um einen imaginären Akt! Die geistige Welt - was wir die nichtalltägliche Wirklichkeit nennen - ist völlig real und durchdringt alles physisch Wahrnehmbare. Es sind diese Kräfte, welche die materielle Realität formen, sie haben also sehr wohl Einfluss auf physische Vorgänge, auch wenn sie vom ungeübten Auge nicht wahrgenommen werden können".

Endlich sind die Beiden am Ziel und Jos öffnet die Türe. "Hallo, kommt herein. Wollt ihr was trinken?" "Nein danke, Jos, ich möchte gleich beginnen" sagt Badik, "ich habe dir ja gesagt, dass Meg mir dabei helfen wird. Ist das für dich immer noch in Ordnung?" "Ja klar, also kommt, dann gehen wir gleich ins Arbeitszimmer". Jos ist Grafiker und hat in seinem geräumigen Atelier bereits eine schöne Decke am Boden ausgebreitet. Badik packt seine Sachen aus, eine fellbespannte Rahmentrommel, eine Rassel, verschiedene Kristalle und eine Räucherschale. Jos hat schon eine Schale mit Wasser bereitgestellt.

Badik zündet eine Kerze an und Jos setzt sich auf die Decke. Badik entzündet Räucherwerk und verbannt damit Schatten alten Schmerzes aus dem Raum. Dann ruft er die Geister der sechs Richtungen und seine Geistverbündeten. Jos legt sich nun auf die Decke und Badik kniet neben ihn. Meg setzt sich links an die Wand. Badik's Medizinhelfer, der weisse Rabe, erscheint und zeigt ihm, was als erstes zu tun sei. "Jos, ich werde nun an verschiedenen Stellen deines Körpers Energien entfernen, welche dort nicht hingehören und dir auf Dauer schaden könnten" sagt Badik, "und du, Meg, schlägst dazu die Trommel mit einem langsamen Schlag". Meg beginnt zu trommeln und Badik sieht mit halb geschlossenen Augen, mit dem veränderten Blick, an verschiedenen Stellen von Jos' Körper dunkle Schatten haften. Zusätzlich zeigt ihm der Medizinhelfer jede Stelle an. Nun greift Badik mit seinen Händen zu und beginnt, die dunklen Schatten zu entfernen und in die Wasserschale auszuschütteln. Sowie er damit fertig ist, streicht er mit einer langen, weissen Feder über Jos' Körper und harmonisiert damit die gereinigten Bereiche. Das Wasser wir er später selber draussen der Erde übergeben. Nach einer kurzen Rücksprache mit seinem Medizinhelfer sagt Badik zu Jos: "Du bist nun wieder ziemlich 'sauber'. Mein geistiger Helfer meint jedoch, dass eine Seelenteilrückholung angesagt wäre." "Eine was?" "Schau, das ist so" erläutert Badik, "es kann geschehen, dass bei einem schockartigen Erlebnis ein Teil der Seele eines Menschen weggeht, damit der Betroffene das Erlebte besser überwinden kann. Dies ist eigentlich eine sehr gute Sache. Manchmal kommt aber dieser entflohene Teil nicht von selbst wieder zurück und dann bleibt die betroffene Person geschwächt und anfälliger für Krankheiten." "Und du denkst, dass ich sowas erlebt hätte? Ich kann mich eigentlich an keine solchen schlimmen Erlebnisse erinnern. Allerdings fühle ich mich in letzter Zeit schon immer irgendwie schwach und antriebslos. Nun ja, dann machen wir doch mal so ein Ritual" meint Jos.

Badik legt sich auf die rechte Seite neben Jos und Meg trommelt mit einem gleichmässigen Schlag. Dieser monotone Schlag zieht Badik hinaus aus dieser und hinein in die geistige Wirklichkeit. Er trifft seinen weissen Raben und folgt ihm, schwingt sich empor - und schwebt im unergründlichen Raum. Das Ziel ist klar: den verlorenen Seelenteil zu finden, welcher Jos zur Zeit am nötigsten braucht, um wieder ganz zu sein. Badik sieht vor sich den Raben schweben wie ein weisser Adler. Undefinierbare Farben und amorphe Formen wallen um ihn herum. Plötzlich taucht er in eine Szene ein, steht in einem Hinterhof in einer Stadt. Rechts eine hohe Mauer und links eine alte Hausfassade. Geradeaus befindet sich eine an ein Haus angebaute Bretterbude. Dort sieht er seinen weissen Raben sitzen. Auf dem Dach des Schuppens kniet ein etwa fünfjähriger Junge und versucht, nach einem Teddybären zu greifen, der dort nahe der Dachkante liegt. Badik weiss, dieser Junge ist Jos. Plötzlich rutscht das Kind aus und fällt etwa zweieinhalb Meter tief auf den Vorplatz. Der Junge liegt am Boden und schreit und da löst sich ein halbdurchsichtiger Geist von dem Kind und zieht sich in eine Ecke hinter dem Schuppen zurück. Leute kommen und kümmern sich um den Jungen, tragen ihn schliesslich fort. Badik geht nun zu diesem Seelenteil, der da in der Ecke kauert und spricht mit ihm. Er kann ihn dazu bewegen, mitzukommen, zurück zum erwachsenen Jos. Badik erzählt Jos das Vorgefallene und dieser entgegnet: "Mein Gott, ja - genau, die Beschreibung stimmt. Das ist das Haus wo ich aufgewachsen bin. Meine Eltern haben mir erzählt, ich sei einmal im Hof vom Schuppen gefallen, doch ich mag mich nicht daran erinnern. Aber interessant ist, dass ich nicht schwindelfrei bin. Das könnte vielleicht damit zusammenhängen...". "Ja, kann schon sein" meint Badik, "wichtig ist jetzt jedenfalls, dass du den kleinen Jungen, den du nach jenem Sturz verloren hast, willkommen heisst! Rufe mich spätestens in ein paar Tagen an, wie es dir geht."

Später sitzen die Drei bei einem The beisammen. Meg ist still und nachdenklich, während Jos heiter und gelöst Spässe macht und meint, er hätte jetzt eigentlich Lust auf ein Schoko–Eis.

Bär